Der Geist der neuen Schule

Der «Züriputsch», diese Miniatur-Revolution im September 1839, unterschied sich von anderen Bauernerhebungen dadurch, dass das Volk nicht etwa neue Freiheiten und Rechte forderte, sondern im Gegenteil eine allzu fortschrittliche Regierung zu Fall brachte.

Seit der Annahme der freiheitlichen Verfassung von 1831 gehörte Zürich zu den Kantonen, die das Volk als Inhaber der höchsten Gewalt anerkannten. Das neue, liberale Regiment widmete sich vor allem dem Ausbau des Schulwesens. Für die Heranbildung tüchtiger Lehrer wurde das Seminar in Küsnacht geschaffen. Dieses vorbildliche «Schullehrer-Institut» stand unter der Leitung des vielseitig begabten Württembergers Thomas Scherr, der im Auftrage des Erziehungsrates zugleich neue, zweckmässige Lehrmittel schuf, die zum erstenmal auch Geschichte, Geographie und Naturkunde in den Unterricht einbezogen.

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Heinrich Bosshard

Scherr strebte eine besser ausgebildete und entsprechend besoldete Lehrerschaft an, die bisher gehaltsmässig sogar hinter den Nachtwächtern zurückstand. Ueber 400 amtierende  amtierende Lehrer unterzog er in den Jahren 1833/34 einer Prüfung, die unglaubliche Missstände aufdeckte. Da gab es Schulmeister, die nichts Geschriebenes lesen konnten und nicht imstande waren, vierstellige Zahlen zu schreiben. Einer wusste nichts von Zwingli und Luther, ein anderer behauptete, bei Sempach sei der Riese Goliath ums Leben gekommen, ein dritter verlegte Basel ans Schwarze Meer, und ein vierter bezeichnete Kaspar, Melchior und Balthasar als die ersten Eidgenossen. 75 der Geprüften mussten aus dem Schuldienst entlassen werden. Diese begannen, gegen Scherr und die neue Schule zu hetzen. Aber auch sonst sollte der Aufschwung des liberalen Kantons nicht ohne Rückschlag bleiben.

Die gesetzliche Schulpflicht verhinderte die Kinder an der Mitarbeit in Feld und Fabrik. Viele Eltern, welche noch die alte Schule besucht hatten, verstanden weder Inhalt noch Zweck der neuen Bücher. Manchenorts sah man in der neuen Schule, die sich von der Bevormundung der Kirche freigemacht hatte, nur den Abbau der religiösen Bildung. Man sah den Glauben gefährdet. In einzelnen Dörfern kam es zu Gewalttätigkeiten gegen junge, von Scherr ausgebildete Lehrer und zur Zerstörung der neuen Lehrmittel.

Im Frühjahr 1839 waren der Regierung 316 Petitionen aus zürcherischen Gemeinden zugegangen, von denen die meisten die Vermehrung der Religionsstunden und die Entlassung des verhassten «Schulpapstes» Scherr forderten.

Unter diesen Petitionen an die bedrohte liberale Regierung befand sich auch eine Eingabe der fortschrittlich gesinnten Gemeinde Schwamendingen vom 1. März 1839:

«Mögen Sie, Tit., auf der betretenen Bahn fortwandeln und sich auf keine Weise von derselben abbringen lassen. Genehmigen Sie, Herr Amtsbürgermeister, Hochgeehrte Herren, den Ausdruck des innigsten Dankes und seien Sie versichert, dass – was auch die Zukunft in ihrem Schosse bergen mag – der Kern des Volkes fest zu Ihnen stehen wird. Noch unsere spätern Enkel werden einst die Asche derjenigen segnen, denen Wahrheit, Religion, Recht und Volksbildung am Herzen liegt.

Mit diesen Gefühlen zeichnet Hochachtungsvoll

Bosshard, Lehrer»

Bosshards Namenszug folgten noch weitere 16 Unterschriften. Bestimmt war die Petition auf Betreiben des Lehrers eingereicht worden, der selber ein Zögling Scherrs war und an den neuen Lehrmitteln mitgearbeitet hatte.

Heinrich Bosshard war 1811 in Bolstern bei Winterthur geboren und wirkte seit 1834 im neuen Schwamendinger Schulhaus. Neben seiner hervorragenden pädagogischen Tätigkeit wirkte er an der Abfassung von Scherrs Handbuch der Pädagogik mit. Er schrieb vor allem die Abschnitte über die Naturkunde. An kantonalen Lehrerkonferenzen gab er darin auch praktische Lektionen und führte seine selbstverfertigten chemisch-physikalischen Apparate vor. Daneben wirkte er in der kantonalen Liederbuch-Kommission mit, war Dirigent der Schwamendinger Gesangsvereine und in seiner spärlichen Freizeit ein bedeutender Bienenzüchter und aufgeschlossener Bauer.

Als kantonale Bestrebungen zur Schaffung von guten und preiswerten Jugenschriften wenig Erfolg hatten, ergriff Bosshard selber die Initiative. Seine Jugendzeitschrift sollte ausser unterhaltenden und belehrenden Aufsätzen «fortlaufende, kurze Darstellungen der wichtigsten Tagesereignisse ohne Parteiurteile « bringen. Die Lehrersynode nahm sich der Sache an, und das im Dezember 1838 erschienene Probeblatt des «Schweizerjünglings» war so zugkräftig, dass sich in kurzer Zeit über 1500 Abonnenten fanden. Als aber das Blatt 1839 «unchristlicher Tendenzen» verdächtigt wurde, ging die Abnehmerzahl auf 1100 zurück, und noch im gleichen Jahr musste aus finanziellen Gründen sein Erscheinen eingestellt werden.

Nach dem «Züriputsch» am 6. September 1839 kam die Regierung des Kantons wieder in konservative Hände. Das Lehrerseminar wurde vorübergehend geschlossen und Seminardirektor Scherr entlassen. Unter dem Deckmantel der Sorge für die Wahrung der Religion wurde mancher junge Lehrer in seiner bürgerlichen Ehre und in der Existenz bedroht.

Der belastendste Fall im Kanton war der von Heinrich Bosshard. Unter Kollegen hatte er sich mehrmals in humoristisch-satirischer Art über das neue Regiment ausgelassen. Er wurde deshalb «von der Staatsanwaltschaft wegen lästernder Reden in Untersuchung gezogen». Am 16. Oktober 1839 stellte ihn der Erziehungsrat in seiner Schultätigkeit ein. Dies geschah auf eine Klage des Schwamendinger Pfarrers Salomon Wirz, da angeblich «in der Gemeinde gegen Bosshard starke Aufregung herrsche und von Seiten der Gutgesinnten (!) Exzesse zu befürchten seien».

Das Kriminalgericht wies die Klage zurück und übergab sie dem Bezirksgericht. Vergeblich petitionierten 63 Hausväter für ihren Lehrer. Einen Rekurs des Angegriffenen wies der Regierungsrat am 4. Dezember 1839 ab. weil Bosshard der Religionsstörung als eines Vergehens beschuldigt sei, das zum voraus die Untauglichkeit für den Beruf eines Volksschullehrers begründe.

Am 8. Januar 1840 wurde Bosshard zu acht Tagen Gefängnis, 40 Franken Busse und 44 Franken Kosten verurteilt und für fünf Jahre als unfähig zur Bekleidung von Stellen erklärt, wobei erst noch die günstigen Zeugnisse der Gemeindeschulpflege strafmildernd angerechnet wurden. Das Obergericht sprach Bosshard am 2. Februar 1840 zwar frei, fand ihn aber zur Weiterführung der Schule zu verdächtig. Dafür holten ihn nach dem Urteilsspruch Schulkinder und Bürger im Triumph in Zürich ab. Als Begrüssungslied sangen sie «Lobt froh den Herrn!», und die Gemeinde wählte ihn zu ihrem Schreiber.

Erst nachdem im Dezember 1840 wieder eine Petition von 101 Schulgenossen eingegangen war, hob der Erziehungsrat «in Anbetracht der über das Benehmen des Schullehrers Bosshard während der Zeit der Suspension ausgestellten guten Zeugnisse» mit fünf gegen vier Stimmen am 27. April 1841 die Amtseinstellung auf. Aber die Schulbehörde wurde aufgefordert, «über die Dienstverrichtungen und das sittliche Benehmen des Herrn Bosshard fernerhin ein wachsames Auge zu haben.»

Weitherum bekannt wurde Bosshard als Dichter des Sempacherliedes, dessen Text er um 1836 herum schrieb. Seine rastlose Tätigkeit hatte so an seiner Gesundheit gezehrt, dass er sich 1850 zum Rücktritt entschliessen musste. Er liess sich mit seiner Familie als Farmer, Naturforscher und Dichter in Nordamerika nieder und starb dort 1877. Im Jahre 1909 wurde ihm von Amerika-Schweizern in Highland, Illinois,ein Denkmal gesetzt.